Analytischer Philosoph aus Leidenschaft

Privatdozent Dr. Gunnar Schumann hat die Venia Legendi von der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität erhalten.


Gruppe von mehreren Personen Foto: FernUniversität
Freuen sich über die Venia Legendi in der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften: (v.li.) Dekan Prof. Peter Risthaus, PD Gunnar Schumann, Prof. Hubertus Busche und KSW-Geschäftsführer Thomas Walter.

„Wenn man sich für Philosophie entscheidet, wird diese Disziplin Teil der Persönlichkeit“, sagt Schumann, der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lehrgebiet Philosophie I arbeitet. „Ich identifiziere mich stark mit dem Fach.“ Gunnar Schumann versteht sich als analytischer Philosoph mit den Schwerpunkten Sprache, Handlungs- und Erkenntnistheorie. Zur heutigen Hauptströmung hat sich die analytische Philosophie seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt und ist vor allem im angelsächsischen Raum verbreitet.

Geistes- versus Naturwissenschaften

Es geht für Schumann um Klarheit und um Abgrenzung, um Methoden und Erklärungen. Für sein Habilitationsprojekt ist er der Frage nach der angemessenen Form von historischen Erklärungen nachgegangen. Dahinter steht letztlich die Frage, wie wir uns als Menschen sehen. „Geschichte besteht im Wesentlichen aus menschlichen Handlungen, ausgeführt von individuellen oder kollektiven Akteuren, die mittels Handlungsgründen – und nicht mittels Ursachen – erklärt werden müssen“, beschreibt Schumann. „Ich möchte zeigen, dass es einen prinzipiellen Unterschied zwischen naturwissenschaftlichen Erklärungen und denen der Geschichtswissenschaft gibt.“ In der Philosophie gibt es eine lange Debatte über die angemessene Form der Erklärung menschlichen Handelns. Dabei liegt der Rückgriff auf die Methoden der Naturwissenschaften stets nahe.

„Die Geisteswissenschaften sind als akademische Disziplin nach den Naturwissenschaften entstanden. Letztere waren sehr erfolgreich mit ihren Methoden des Erklärens anhand von Ursachen und Gesetzmäßigkeiten. So dienten sie nicht wenigen als Vorbild für die Geisteswissenschaften. Es wurde versucht, historische, stärker noch soziale Phänomene anhand von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu erklären“, greift Schumann zurück. „Es gibt ja durchaus auch statistische Regularitäten in den sozialen Aspekten menschlichen Lebens.“ Es lag daher nahe, das naturwissenschaftliche Konzept von Ursache-Wirkung auf die Geistes- und Sozialwissenschaften zu übertragen“, so Schumann.

aufgeschlagenes Buch auf einem Bücherstapel Foto: Viorika-E+-GettyImages

Menschen handeln intentional

Dagegen wurden Stimmen laut, die sich gegen diese naturwissenschaftlich orientierte Sicht der Geistes- und Sozialwissenschaften wehren: Menschen handeln in der Regel aus Gründen, sie verfolgen Ziele, Zwecke und Absichten – „und Gründeerklärungen sind keine Kausalerklärungen“, so Schumann. Selbst wenn die Zwecke nicht erreicht werden oder es zu unbeabsichtigten Folgen von Handlungen komme, bestehe die Erklärung immer auch in der Angabe der Handlungsgründe.

Dafür bezieht sich Gunnar Schumann auf die intentionalistische Handlungstheorie, die auf den Philosophen Ludwig Wittgenstein zurückgeht. „Wir sind keine Marionetten, die an kausalen Fäden hängen, wir handeln als Menschen aus uns selbst heraus“, unterstreicht Schumann seine Perspektive. Der Philosoph plädiert dafür, dass historische und sozialwissenschaftliche Erklärungen teleologisch (oder „intentional“) sind – und nicht kausal wie in den Naturwissenschaften.

Für Schumann besteht dadurch ein prinzipieller methodologischer Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Allerdings sei die kausalistische Handlungstheorie Mainstream in der Philosophie auch in der Theorie der Geschichts- und Sozialwissenschaften: Soziale Mechanismen entsprechen physikalischen Mechanismen. „Das ist immer noch eine omnipräsente These“, stellt Schumann fest. „In der Neuroökonomie etwa werden ökonomische Phänomene auf neurologische Prozesse zurückgeführt.“ Ist da eine Annäherung möglich?

Gründe und Ursachen

„Eine absichtliche Handlung zeichnet sich nicht dadurch aus, dass ein mentales oder neurologisches Phänomen uns zu einer Handlung gleichsam anstößt, sondern durch einen bestimmten Kontext.“ In Schumanns Argumentation hängen Absichten mit ihren Handlungen auf begriffliche, nicht auf kausale Art und Weise miteinander zusammen. Gründe versus Ursachen – alles nur Wortklauberei? „In der Alltagssprache werden die Wörter ‚Ursache‘ und ‚Grund‘ durchaus mitunter als austauschbar verwendet. Ich will auch nicht verbieten, in den Geschichts- und Sozialwissenschaften von Ursachen zu sprechen – aber eben nicht im naturwissenschaftlichen Sinne“, räumt Schumann den Vorwurf von Haarspalterei aus.

Ich schätze das Potenzial der Fernstudierenden: Unsere Studierende bringen großes Interesse und Engagement mit.

PD Gunnar Schumann

Ein Beispiel aus der Ökonomie: Hinter der These „money causes prices“ steckt für den habilitierten Philosophen keine Ursache-Wirkung-Beziehung: Wenn ein Unternehmer höhere Gewinne erzielt, investiert er ins Unternehmen und stellt weitere Beschäftigte ein. Die verlangen nach einiger Zeit höhere Löhne: Mehr Lohn bedeutet mehr Konsum. Am Ende steigen die Preise wegen höherer Nachfrage.

„Hinter der Formel ‚money causes prices‘ stecken intentionale Handlungen von Menschen – und kein Automatismus oder ein Impuls wie bei einer Billardkugel, die ins Rollen kommt, weil sie eine andere angestoßen hat und womöglich weitere anstößt.“

Potenzial der Fernstudierenden

Gunnar Schumann kam 2012 an die FernUniversität. Promoviert hat er in Philosophie über ein erkenntnistheoretisches Thema an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, an der er auch studiert hat: Philosophie, Kunstgeschichte und Politik. Zwischen Halle und Hagen lagen Indiana/USA und Mainz. In den USA studierte Schumann zwei Semester lang, an der Mainzer Uni arbeitete er als Lehrbeauftragter am Seminar für Philosophie. Von dort wechselte er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter ins Lehrgebiet von Prof. Dr. Hubertus Busche. Seinen Lebensmittelpunkt hat Schumann in Bonn. „Ich arbeite gern an der FernUniversität“, sagt er. „Ich schätze das Potenzial der Fernstudierenden: Unsere Studierende bringen großes Interesse und Engagement mit und sind gereifte Persönlichkeiten.“ Sie haben Philosophie in der DNA. Wie Schumann selbst.


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Anja Wetter | 08.06.2022