Verstehen, wie wir verstehen

Die Jahrestagung des Forschungsschwerpunkts digitale_kultur wandte sich „digitaler Hermeneutik“ zu. FernUni-Professor Peter Risthaus erklärt im Rückblick, worum es inhaltlich ging.


Zwei Männer auf Podium Foto: FernUniversität
Ingo Dachwitz (li.) von netzpolitik.org diskutierte u.a. die Gefahren eines digitalen Überwachungskapitalismus. Prof. Dr. Thomas Bedorf, Sprecher des Forschungsschwerpunkts, moderierte das Panel.

Maschinen, die Menschen verstehen. Menschen, die Maschinen nicht mehr verstehen. Maschinen, die Menschen beim Verstehen helfen: Den täglichen Kampf darum, unsere komplexe Lebenswelt zu begreifen, führen wir nicht mehr allein. „Wir leben in einer Koexistenz mit Maschinen – so wie auch mit Tieren, obwohl wir sie nicht gänzlich verstehen“, verdeutlicht Prof. Dr. Peter Risthaus von der FernUniversität. Der Literatur- und Medienforscher ist Teil des wissenschaftlichen Teams, das auf dem Hagener Campus den Kongress „Digitale Hermeneutik Maschinen, Verfahren, Sinn“ organisiert hat. Das dreitägige Treffen bildete die Jahrestagung des hochschulweiten Forschungsschwerpunkts digitale_kultur.

Doch was ist Hermeneutik eigentlich? „Hermeneutik ist etwas, das sowohl in der Philosophie als auch in der Literaturwissenschaft, aber auch im Recht eine wichtige Rolle spielt“, ordnet Prof. Risthaus ein. Der Leiter des Lehrgebiets Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Mediengeschichte sieht ihre Herkunft in konkreter Textarbeit begründet: Wurde Hermeneutik im Mittelalter noch als die Kunst zur Auslegung biblischen Schriftsinns begriffen, avancierte sie mit der Zeit zur allgemeinen wissenschaftlichen Methode, um Texte und Zeichen zu verstehen.

Neue digitale Bedingungen des Verstehens

Die philosophische Hermeneutik schwang sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in Metaebenen empor: So forderte etwa der Philosoph Hans-Georg Gadamer, dass das „Universum des Verstehens“ an sich besser verstanden und fortlaufend neu verhandelt werden müsse. „Die philosophische Hermeneutik fragt immer nach dem Grundsätzlichsten“, bringt Risthaus auf den Punkt. Unser Dasein selbst soll sich primär durch das Verstehen auszeichnen. Derart schillernd, war der hermeneutische Ansatz stets Gegenstand heißer Debatten, diente manchen sogar als Feindbild: „Die Literaturwissenschaft wandte sich zeitweise sogar völlig vom Begriff der Hermeneutik ab“, gibt der Forscher zu bedenken und betont dagegen das Missverständnis als treibende Kraft von Kommunikation. „Diese alten Fronten sind heutzutage allerdings weitestgehend überwunden“, urteilt Risthaus. Heute herrsche breite Einigkeit darüber, dass vor allem die technisch-medialen Bedingungen des Verstehens wichtig sind. Eine Differenzierung lohnt sich denn auch mit Blick auf die neue digitale Kultur, wie sie der Forschungsschwerpunkt der FernUniversität identifiziert: „Es ist eben ein Unterschied, ob wir etwas mündlich verstehen, als gedrucktes Buch oder unter den Bedingungen von Twitter.“

Langer Ausdruck vom Nadeldrucker mit Gedicht Foto: FernUniversität
Gedicht, verfasst von einem Algorithmus für die Ausstellung „Machine in Residence“ in der Universitätsbibliothek, deren Eröffnung Teil der Tagung war.

Tagungsprogramm als Fingerzeig

Angesichts des digitalen Wandels werden sich alle Geistes- und Kulturwissenschaften weiter anpassen müssen – da ist sich Peter Risthaus sicher. „Unsere Wissenschaft verändert sich ganz stark.“ Ein Blick auf das Programm der Jahrestagung verdeutlicht, wie viele neue Aufgabenfelder inzwischen darauf warten, interdisziplinär erschlossen zu werden. So ging es etwa im politischen Sinn um „Macht und Ohnmacht in der automatisierten Öffentlichkeit“, Algorithmen, die Poesie produzieren oder Quellen für die weitere wissenschaftlich Arbeit auswerten. KI-gestützte Interpretationsverfahren standen ebenso zur Diskussion wie bildungswissenschaftliche Perspektiven und „museale Deutungsmacht unter digitalen Bedingungen“.

Einbindung von Studierenden

„Die Substanz der Vorträge war insgesamt sehr hoch – das haben mir auch die Teilnehmenden gespiegelt“, resümiert Risthaus und unterstreicht den gelungenen Dialog zwischen Philosophie, Psychologie, Informatik, Bildungs-, Literatur-, Medien-, Geschichtswissenschaft und kreativer Praxis. „Es war eine Tagung, der man anmerken konnte, dass es um was geht. Alle suchten die Herausforderungen mit anderen, um zu erfahren: Was sagen die dazu?“ Auch die Studierenden der FernUniversität wurden aktiv eingebunden und trugen zur Gestaltung des Programms bei. „Das ist nicht unbedingt üblich für so eine Tagung. Aber wir betreiben hier bewusst ein forschendes Lernen“, betont Risthaus, auch als Dekan der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften.

Phänomenologische Summer School

Angegliedert an die Jahrestagung war zudem die Sommerschule der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Es ging um die „Phänomenologie der digitalen Welt“ – und für die Teilnehmenden damit um die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Fach und seinen Begriffen. „Die Phänomenologie will die grundständigen Funktionsweisen des Bewusstseins aus sich selbst heraus erschließen“, stellt Risthaus einen Bezug zum Thema „Verstehen“ her und nennt ein Beispiel: „Wie entwirft ein Bewusstsein zum Beispiel ‚Zeit‘?“

Mann an Rednerpult Foto: FernUniversität
Prof. Peter Risthaus während der Tagung

Wischen und Klicken

„Wir leben nicht nur in einer physikalischen, sondern auch in einer subjektiven Welt, die aus Bedeutsamkeiten, Sprache, Zeichen und so weiter besteht“. Aus phänomenologischer Sicht ist dabei interessant, welche Bewusstseinsakte isoliert werden können, die diese Welt zuvorderst herstellen. Bereits Martin Heidegger fragt sich, welche Rolle die Technik dabei einnimmt, der er sehr kritisch gegenübersteht. Die jüngeren Phänomenologien sind hier aufgeschlossener, wenn sie Gesten wie das „Wischen“ oder „Klicken“ untersuchen.

FernUni gründet digitalen Open-Acess-Verlag

Fest steht, dass Inhalte heute in ungekannter Geschwindigkeit produziert, rezipiert und weiterverarbeitet werden – außerdem verändert sich die Erwartungshaltung an ihre Zugänglichkeit. Hier muss die seriöse Wissenschaft Schritt halten. Mit einem eigenen neuen Verlag trägt die FernUniversität in Hagen jetzt dazu bei. „Hagen University Press“ (Hagen UP) startete im Kontext der Jahrestagung. Er veröffentlicht wissenschaftliche Texte frei zugänglich im Open Access, aber auch als Book on Demand – und gewährleistet zugleich deren hohe Qualität. Forschungspublikationen und Zeitschriften finden sich künftig unter der Webadresse hagen-up.de.

Zum Thema „Digitale Kultur“ fungiert Peter Risthaus, immer neugierig auf neue technische Möglichkeiten, selbst als Herausgeber bei Hagen UP. Mit einem Augenzwinkern betont er nach erfolgreicher Tagung aber auch: „Man muss sich trotzdem noch Zeit zum Lesen nehmen – in einem ganz altmodischen Sinne.“

 

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Benedikt Reuse | 11.07.2022