Wie sprechen wir über unsere Vergangenheit?

Prof. Felix Ackermann baut an der FernUniversität das neue Lehrgebiet „Public History“ auf. Der Osteuropa-Experte möchte beispielsweise zur Geschichte der App Telegram forschen.


Neue Professur und neues Lehrgebiet: Seit September ist Prof. Dr. Felix Ackermann an der FernUniversität. Die letzten Jahre verbrachte der FernUni-Professor in Litauen und Polen. Er spricht unter anderem fließend russisch, belarussisch, polnisch und litauisch.

Foto: Jan Zappner
Seit September ist Prof. Felix Ackermann an der FernUniversität und baut das Lehrgebiet Public History auf.

Lehre an einer Exiluniversität

Der 44-Jährige hatte schon immer großes Interesse an osteuropäischen Ländern, lernte früh polnisch und lebte bereits als Austauschschüler ein Jahr in Polen. Besonders interessant für seine Forschung findet Ackermann die Republik Belarus. „Im Rahmen meiner Promotion habe ich mich tief in die Geschichte eingearbeitet.“ In Litauen lehrte er fünf Jahre an der European Humanities University (EHU) in Wilna, einer belarussischen Hochschule im litauischen Exil. „Dort habe ich im Master Kulturwissenschaften bereits Erfahrung mit der Gestaltung von hybriden Studiengängen gesammelt, die denen der FernUni sehr ähnlich sind.“ Die politische Situation in Belarus hingegen hat sich noch weiter zugespitzt. Die Universität konnte dort 2005 nicht mehr akkreditiert werden. Mit europäischer Unterstützung wurde sie im litauischen Exil neu gegründet und ermöglicht seit 2006 Studierenden in Belarus weiterhin ihr Studium. „Seit 2020 wurde es nach den großen Protesten in Belarus zunehmend gefährlich für junge Menschen, die keine regimetreue Meinung vertreten“, sagt Felix Ackermann. Marfa Riabkova, eine ehemalige EHU-Studentin ist gerade zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden, weil sie eine Menschenrechtsorganisation aufgebaut hatte – „daher ist es so wichtig, dass es diese Universität im Exil gibt“.

Spannende Forschungsmöglichkeiten in NRW

2016 wechselte Ackermann an das Deutsche Historische Institut in Warschau. „Dort hatte ich die Möglichkeit meine Habilitationsschrift abzuschließen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass ich nicht nur forschen, sondern in Zukunft auch mit Studierenden zusammenarbeiten möchte.“ An der FernUni fasziniert ihn vor allem die Diversität der Studierenden, und der gebürtige Berliner freut sich sehr darauf, Nordrhein-Westfalen (NRW) kennenzulernen. „NRW ist für meine Forschung besonders spannend. Hier leben viele verschiedene Menschen mit ganz unterschiedlichen Familiengeschichten – historisch besonders viele aus Polen und heute aufgrund des russischen Kriegs aus der Ukraine.“ Für seine Arbeit an der FernUni hat er gleich zwei Präsenzseminare angemeldet, um ein Gefühl für die Zusammenarbeit mit den Studierenden zu bekommen. Gemeinsam mit dem internationalen Team, das er gerade aufbaut, erarbeitet er neue Module im Master-Studiengang „Geschichte Europas“, zu denen auch eine Einführung in die Geschichte von Öffentlichkeit gehört.

Wie wird über unsere Vergangenheit diskutiert?

Im neuen Lehrgebiet „Public History“ geht es darum, die gesellschaftliche Diskussion über die Bedeutung der Vergangenheit in der Gegenwart zu erforschen. Im Zentrum steht die heutige Zirkulation historischer Bilder, Narrative und Vergleiche. „In der von Russland angegriffenen Ukraine etwa werden heute sehr viele Vergleiche mit der deutschen Besatzungsherrschaft während des Zweiten Weltkriegs vorgenommen.“ Eine besondere Rolle spielt dabei die Klassifizierung russischer Verbrechen als Völkermord, wie z.B. die vollständige Zerstörung der Stadt Mariupol 2022. Mit der Beobachtung, wie stark die Kategorie Genozid heute in der Gegenwart vorkommt und wie schwer sich die deutsche Gesellschaft tut, dieselbe Vokabel zur Beschreibung der Wirklichkeit zu verwenden, beginnt die Forschung von Ackermann: „Wie wurde zur Verhinderung eines erneuten Völkermords nach dem Ende des Nationalsozialismus der Wortlaut der UN-Charta entwickelt und warum fällt die Benennung in dem Moment, in dem in der Ukraine ein solcher vollzogen wird, so schwer?“

Wie wird Telegram genutzt?

Als empirische Grundlage nutzt der Forscher auch soziale Medien. Diese geben heutzutage vielen Menschen die Möglichkeit, mit wenig Aufwand selbst Informationen zu teilen. Hier interessiert ihn wie die Digitalisierung die gesellschaftliche Diskussion verändert? „Social Media stellt eine spezifische Form geteilter Öffentlichkeit her.“ Felix Ackermann möchte untersuchen, wie die Messenger-App Telegram die Kommunikation historischer Vergleiche in der Ukraine, Belarus und Deutschland verändert. Dabei spielt Telegram im deutschen Sprachraum eine ganz andere Rolle bei der Selbstorganisation von Protestgruppen als etwa in Belarus nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020. „In der Ukraine ist die App heute die wichtigste Nachrichtenquelle. Die App ist dort in Zeiten des Kriegs wichtiger als Instagram oder WhatsApp, weil man sowohl Kanäle abonnieren, als auch Kanäle zur Selbstorganisation erstellen kann.“

Foto: Vladislav-Zolotov/Getty Images
Felix Ackermann erforscht die Nachnutzung von stillgelegten Zellengefängnissen wie Kresty St. Petersburg.

Ein Blick in die Geschichte der Gefängnisse

In seiner Forschungsarbeit in Warschau untersuchte er die Geschichte von Gefängnissen in Polen, Litauen und in Russland. Die Gefängnisse wurden im 19. Jahrhundert von Preußen, Russland und Habsburg errichtet, nachdem das Polnisch-Litauische Reich geteilt worden war. Während seiner Forschungen wurden mehrere dieser Gefängnisse stillgelegt. Bei der Recherche stellte Ackermann große Unterschiede im Umgang mit der Gewaltgeschichte dieser Gefängnisse fest. „In Russland ist es heute unmöglich, über die Vergangenheit etwa des Petersburger Kresty-Gefängnisses zu sprechen, während in der litauischen Hauptstadt das ähnliche Lukischki-Gefängnis vollständig für Kunst und Kultur geöffnet wurde.“ Auf dem Wilnaer Gefängnishof finden heute Festivals statt, in den Gängen der Zellentrakte werden Ausstellungen gezeigt. In Warschau wiederum versucht das polnische Justizministerium in dem riesigen Gefängniskomplex in der Rakowiecka-Straße ein Museum für eine einzige Opfergruppe, die sogenannten verfemten Soldaten, zu errichten. „Die Unterschiede sind beeindruckend. Eine Analyse dieser Beispiele kann das heutige Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft aufzeigen.“

Stadtgeschichte Hagen

An der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder baute er ab 2001 gemeinsam mit deutschen und polnischen Studierenden das Institut für angewandte Geschichte auf, das bis heute Projekte in der deutsch-polnischen Grenzregion durchführt. Seit dieser Zeit interessiert sich Ackermann stets für die Lokalgeschichte. Schon damals fragte er sich, wie er engagierte Bürgerinnen und Bürger in die Forschung einbeziehen kann. Auch in die Geschichte von Hagen und Umgebung möchte er sich einarbeiten. Dabei interessiert ihn besonders, wie das Zusammenspiel zwischen Universität, Stadtarchiv, Geschichtsverein, Museum und der Einwohnerschaft ist.

Forschung für ein breiteres Publikum erklären

Neben der Lehre und Forschung meldet sich der Vater von drei Kindern regelmäßig als Publizist zu Wort. Er begann als Praktikant des Frankfurter Stadtboten im kleinen Frankfurt und schreibt heute regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Zeitung im großen Frankfurt. Dabei versucht Felix Ackermann historische Forschungsperspektiven und eine Einordnung der Veränderung in der Gegenwart zu verbinden. „Derzeit bewegt mich besonders das Schicksal der Menschen, die im Schatten des russischen Angriffskrieges in der Ukraine im Nachbarland Belarus verfolgt werden.“ Um zu erklären, warum diese Repressionen wichtig sind, muss er auch im Blick haben, wie sich in Deutschland Öffentlichkeit verändert. „Als Wissenschaftler und Bürger sehe ich es als meine Pflicht, für ein breiteres Publikum zu erklären, warum es wichtig ist, das östliche Europa wahrzunehmen.“


Presse | 06.10.2022