Mit Leib und Seele

Absolventinnen und Absolventen aus Berlin, die unterschiedlicher nicht sein könnten und sich seit 18 Jahren regelmäßig treffen, haben gemeinsam ein Buch über Identität geschrieben.


Foto: Undine Eberlein
Die FernUni vereint höchst unterschiedliche Menschen, die sich über ihr Studium hinaus als Gruppe treffen und auf Seminarreisen gehen.

So bunt wie die Studierendenschaft an der FernUniversität in Hagen ist wohl keine andere an einer Hochschule in Deutschland. Ein kleiner, fester Kreis von Absolventinnen und Absolventen in Berlin steht dafür exemplarisch, als FernUniversität unterm Brennglas. Sie könnten heterogener kaum sein: Alter, Geschlecht, Ethnie, Bildungshintergrund, Motivation zum Studium und Jobs – die breite Palette, die bei FernUni-Studierenden zu finden ist. Sie sind Taxifahrer, Immobilienunternehmer, Theatermenschen, Doktorand, Informatikerin, Manager, Yogalehrerin, Auswanderer, Beamtin und Grimme-Preisträger. Als gemeinsamen Nenner haben sie die Leidenschaft für Philosophie. Über dieses Fach hat sich der harte Berliner Kern 2003 kennengelernt.

Facetten von Identität

Pandemiebedingt kommen sie zurzeit online zusammen und diskutieren philosophische Fragestellungen. Nun haben sie ein Buch geschrieben: „Spiegelbrüche. Philosophisch-literarische Geschichten über Identität und Ausnahmesituationen“. Für sie ist Spiegelbrüche „das Resultat eines kreativen Experiments im Umgang mit Differenz“. In acht stilistisch unterschiedlichen Kurzgeschichten und einem Essay umkreisen die Autorinnen und Autoren philosophische Themen, insbesondere eben die Facetten von Identität.

Alle Fäden der Einzelnen laufen bei Dr. Undine Eberlein zusammen: Sie hat als Dozentin und Mentorin für die FernUniversität gearbeitet und eine Gruppe von Studierenden bei Fragen zu Studienbriefen und Hausarbeiten betreut. „Wir haben das Format sozusagen aufgeweitet und auch Seminarthemen miteinander besprochen“, erinnert sich Eberlein an die Anfänge. Im Laufe der Jahre haben sie sich – losgelöst von Modulinhalten – so durch das breite Spektrum der Philosophie geackert: Antike, klassische Metaphysik, Philosophie der Neuzeit, Hermeneutik und Ästhetik bis hin zu Buddhismus und Daoismus. „Uns geht es, früher wie heute, darum, was die jeweilige Richtung der Philosophie für unser Leben hier und jetzt bedeuten kann“, so Eberlein.

Sinnsuche und Abenteuer

Die meisten Mitglieder haben längst ihren Abschluss, den Zusammenhalt hat das nicht beeinflusst. „Wir haben schon so viel erlebt: Hochzeiten, Geburten…“, erzählt Eberhard Finkenstädt, der von der ersten Stunde an dabei ist. Aktuell verdient er seinen Lebensunterhalt mit Taxifahren im nächtlichen Berlin. An der FernUni hat er einen Magister gemacht und arbeitet nun an seiner Promotion. „Für mich bedeutet Philosophie Lektüre, anschließend diskutieren wir über die Lektüre – als Menschen, die unterschiedlich sein können, sich auch schon mal sich selbst in Frage stellen und trotzdem die Welt verstehen.“

Foto: Christina Gießmann
In ihrem Erstlingswerk betrachten sie in unterschiedlichen Formaten das Thema Identität.

Für diese Sinnsuche haben sie sich in Seminarräumen, Kneipen, Wohnzimmern und öffentlichen Parks getroffen – ebenso wie an kuriosen Orten: in einem mit Baufolien abgetrennten Durchgangsraum eines im Umbau befindlichen Gebäudes der Charité. Höchst passend lasen sie „Wahnsinn und Gesellschaft“ von Michel Foucault. Es hatte sich so ergeben.

Ein anderes Mal fanden sie trotz nächtlich fortgeschrittener Zeit kein Ende, an unlösbaren Fragen zu laborieren. Der Sicherheitsdienst hatte sie übersehen und im Gebäude eingeschlossen. Kurzerhand kletterten sie aus dem Fenster, überwanden per Räuberleiter einen Zaun und erlangten so ihre Freiheit zurück. Außerdem sind sie vor Corona mitunter auf Seminarreise gegangen: in die Region um Berlin und bis ins benachbarte Ausland.

Diversität als Bereicherung

„Als eine solche Gruppe hätten wir uns an einer Präsenzuni nicht gefunden“, ist sich Eberhard Finkenstädt sicher und erklärt damit den Gruppentitel „Die Unwahrscheinlichen“. „Wer diese Vielfalt haben möchte, findet sie nur an der FernUni.“ Menschen, die unterschiedliche Perspektiven einbringen. Menschen, die sich auf Unwägbarkeiten, Risiken und den Verlust von Gewissheiten einlassen – „und sich so auf neue Denkerfahrungen einlassen“, beschreibt es Undine Eberlein im Vorwort des Büchleins. „Weil wir ein Bewusstsein haben und unser Leben nicht reflexionslos vollziehen, sondern uns zu ihm verhalten. Eben deshalb sind wir genötigt, es immer wieder von Neuem zu erzählen und zu interpretieren.“

  • Undine Eberlein: Einleitung. Die Unwahrscheinlichen
    Undine Eberlein: Identität - Autonomie, Beziehungen und Unverfügbarkeit. Ein philosophischer Essay
    Dr. Oŝke N. Kuça: Dunkel und licht
    Lars Windolf: Die weiße Einöde
    Undine Eberlein: Foto-Fix/Unfix
    Christina Gießmann: Am Köllnischen Park
    Slaven Espek: Sieben Metamorphosen
    Marina Oleneva: Philosophisches Wörterbuch
    Eva Winter: Durcheinander
    Tobias Ehret: Hannah und ihre Tochter
    Eberhard Finkenstädt: Nachwort

Ihre persönlichen Reflexionen, Erzählungen und Interpretationen haben sie in dem nun vorliegenden Buch gebündelt. Alle literarischen Formen waren erlaubt – und sind auch umgesetzt: Kurzgeschichte, Brief, Dialog, Gedicht, Theaterskript. Das Thema Identität verbindet alle Geschichten. Die Autorinnen und Autoren dokumentieren ihre Diversität. Schon ab der Ideensammlung haben sie ambitioniert diskutiert und hohe Ansprüche an die Texte gestellt.

„Es ist ein abschließendes Projekt im Sinne einer Art angewandter Philosophie“, fasst Eberlein zusammen. Das ist sicher nicht der Schlusspunkt – hinterm Horizont geht’s schließlich immer weiter.


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Anja Wetter | 11.01.2022