Bildungsgerechtigkeit in der Krise

Bildung und Zuwanderung standen im Fokus bei der Hagener Bildungskonferenz. Dr. Johanna Pangritz spricht im Interview über soziale Ungleichheiten im Feld Schule.


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Wer schon vor der Pandemie schlecht mit digitalen Endgeräten ausgestattet war, wurde komplett abgehängt.

Vom Lehrer bis zur Erzieherin, von der Hochschulprofessorin bis zum Verwaltungsmitarbeiter im Bildungsbereich: Mehr als 200 Teilnehmende diskutierten bei der 9. Hagener Bildungskonferenz über Bildungswege und Zuwanderung. Dr. Johanna Pangritz aus dem Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung an der FernUniversität in Hagen, rückt am Rande der Veranstaltung Ergebnisse der Studie „Professionalität und Bildungsgerechtigkeit in der Krise“ in den Fokus. Im Interview spricht die wissenschaftliche Mitarbeiterin über soziale Ungleichheiten im Feld Schule.

FernUniversität: Inwieweit hat sich die soziale Ungleichheit in der Schule während der Corona-Pandemie verschärft?

Pangritz: Es ist ein sowohl als auch. Soziale Ungleichheit war vorher schon da. Das Beispiel, das in der Krise am populärsten war, ist die Frage nach der materiellen Ausstattung. Diese war schon vor der Krise nicht bei allen Schülerinnen und Schülern gleich. Auch bereits vor der Krise hat sich die Schule auf digitale Endgeräte gestützt, um Hausaufgaben oder Recherchen zu machen. Die Konsequenzen sind jedoch während der Pandemie viel stärker sichtbar geworden. Während im Präsenzunterricht Dinge, wie die fehlende materielle Ausstattung, ausgeglichen wurden, war das zu Beginn der Pandemie nicht mehr möglich. Wer vorher schon schlecht ausgestattet war, wurde komplett abgehängt, weil der Zugang zu den Inhalten des Präsenzunterrichts nicht mehr gegeben war.

FernUni: Ist es denn nur die materielle Ausstattung oder nicht vielmehr die Unterstützung durch die Eltern?

Pangritz: Die Lehrkräfte verweisen in unserer Studie häufig auf den Support der Eltern, der in der Pandemie unabdingbar war. Vor allem sind es privilegierte Berufe gewesen, die im Homeoffice tätig sein konnten. Die Verkäuferin im Supermarkt bis zur Pflegekraft im Krankenhaus mussten zur Arbeit und teilweise viele Überstunden machen. Die Schulen haben versucht das aufzufangen, indem Notbeschulung in Präsenz für kleine Gruppen angeboten wurde. Schülerinnen und Schüler mit Ressourcen zu Hause waren jedoch klar im Vorteil. Auch hier geht die Schere weiter auseinander.

FernUni: Die Bildungskonferenz hat sich mit Bildungswegen und Zuwanderung beschäftigt. Inwieweit spielt der Migrationshintergrund von Schülerinnen und Schülern bei sozialer Ungleichheit eine Rolle?

Pangritz: Wir wissen aus der Vorurteilsforschung, dass Vorurteile in Krisensituationen, in der wir uns auch aktuell befinden, Aufwind bekommen. Wenn gesellschaftliche Ereignisse wie die Corona-Pandemie zur Verunsicherung führen, erhalten Vorurteile Aufschwung. Das geht am Feld Schule nicht spurlos vorbei. So könnte es zum Beispiel in der Krise dazu kommen, dass fehlende Leistungen von Schülerinnen und Schülern nicht auf die fehlende Ausstattung oder das nicht vorhandene Netzwerk zu Hause zurückgeführt, sondern Vorurteile über bestimmte Kulturkreise aktiviert und zur Erklärung herangezogen wurden. Das wird im erziehungswissenschaftlichen Diskurs häufig mit einer Defizitorientierung beschrieben.

FernUni: Vor welchen Herausforderungen stehen die pädagogischen Akteurinnen und Akteure nun?

Pangritz: Vor zu vielen, weil so viele Dinge während der Pandemie gleichzeitig gelaufen sind. Es ist nachvollziehbar, dass dies zu einer Überforderung geführt hat. Zu Beginn der Pandemie musste auf die digitalen Settings umgestellt werden. Viele Lehrkräfte berichten, dass sie mit einer großen Verunsicherung zu kämpfen hatten. Wie gestalte ich jetzt mein professionelles Handeln? Eine langfristige Herausforderung ist die Frage nach Bildungsgerechtigkeit. Wie kann ich dieses Feld bearbeiten und welchen Anteil habe ich persönlich daran? Sensibilität für Bildungsgerechtigkeit wurde durch die Pandemie wachgerüttelt, weil bei vielen Schülerinnen und Schülern Lernlücken entstanden sind, die zu Ungleichheit führen können.

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Dr. Johanna Pangritz forscht zur Bildungsgerechtigkeit in der Schule.

FernUni: Was kann denn in der Praxis getan werden, um Bildungsgerechtigkeit herzustellen?

Pangritz: Wir haben in den Interviews gesehen, dass viele Lehrkräfte es nicht als ihren professionellen Handlungsauftrag verstehen, bildungsgerecht zu handeln, obwohl dieser Erziehungsauftrag in jedem Schulgesetz steht. Da müssen wir ansetzen und sensibilisieren. Lehrkräfte müssen sich viel mit sich selbst auseinandersetzen: Wie schaffe ich es einen chancengerechten Zugang zu Bildungsressourcen herzustellen? Was ist mein eigener Anteil an der Reproduktion von Ungleichheit und wie kann ich dem entgegentreten? Ich möchte aber nicht die Verantwortung allein an die Lehrkräfte abschieben. Sie können sich nur bis zu einem gewissen Grad für Bildungsgerechtigkeit einsetzen. Die Struktur Schule zeigt Grenzen auf. Dementsprechend müsste sich das System ändern, damit Bildungsgerechtigkeit einen anderen Stellenwert bekommt. Da sind bildungspolitische Bemühungen notwendig, die sich die Struktur und das System Schule genauer angucken.

FernUni: Wie kann die Forschung von der Bildungskonferenz profitieren?

Pangritz: Mir ist es aus meiner Perspektive als Wissenschaftlerin und als Forscherin für Bildungsgerechtigkeit in der Schule wichtig, dass die Ergebnisse an die Lehrkräfte kommuniziert werden. Deswegen finde ich Formate wie die Bildungskonferenz total schön, da Wissenschaft und pädagogische Praxis in den direkten Austausch kommen. Wir greifen das Feedback auf, um Implikationen für die Praxis zu entwickeln.

9. Hagener Bildungskonferenz

„Bildungsbiografien gestalten – Bildungswege und Zuwanderung“: So lautete das Thema der 9. Hagener Bildungskonferenz mit rund 220 Teilnehmenden aus pädagogischen Berufen. Erneut hatten das Bildungsnetzwerk Hagen und das Zentrum für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung (ZeBO Hagen) gemeinsam auf den Campus der FernUniversität eingeladen. Mit Blick auf die anhaltende Zuwanderung steht der Bildungsbereich von Kita über Schule, berufliche und außerschulische Bildung bis hin zur Weiterbildung vor zahlreichen Herausforderungen. Was sind Bildungshemmnisse und was fördert Bildung? Diese Fragen wurden in Vorträgen, Workshops und Diskussionen thematisiert. Prof. Julia Schütz (links) vom ZeBO Hagen und FernUni-Rektorin Prof. Ada Pellert (2.v.rechts) freuen sich mit Jochen Becker (Leitung Fachbereich Bildung) und Bildungsdezernentin Martina Soddemann von der Stadt Hagen über die Kooperation.

9. Hagener Bildungskonferenz, Julia Schütz, Jochen Becker, Ada Pellert, Martina SoddemannFoto: FernUniversität
 

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Carolin Annemüller | 05.12.2022